Die Geschichte der Physikalischen Chemie an der TH/TU München
Allgemeines zu den Anfängen der Physikalischen Chemie
Der Begriff „Physikalische Chemie“ soll schon von dem russischen Universalgelehrten M.W. Lomonossow (1711-1765) definiert worden sein: „Physikalische Chemie ist eine Wissenschaft, die auf der Basis physikalischer Begriffe und Experimente die Phänomene erklärt, die sich während chemischer Prozesse ereignen“. Es verging aber noch mehr als ein Jahrhundert bis mit Ostwald, van´t Hoff u.a. einschlägige Fachzeitschriften gegründet wurden aus denen dann schließlich die „Berichte der Deutschen Bunsengesellschaft für Physikalische Chemie“ hervorging. (Ulrich Schindewolf, Bunsenmagazin, 2. Jahrgang 6/2000 S. 138-147). In diesem Jahrhundert, aber auch schon davor, wurden grundlegende Erkenntnisse gewonnen, die heute als selbstverständlich der Physikalischen Chemie zugeordnet werden. Beispielhaft seien genannt die Gasgesetze (Boyle-Mariotte, Avogadro), Spektroskopie (Bunsen), Lösungsgleichgewichte (Ostwald), Elektrochemie (Nernst). So war es nur eine Frage der Zeit bis die „Physikalische Chemie“ als eigenständiges Lehr- und Forschungsfach an den Universitäten seinen Platz finden sollte.
M. Zeidler (Bunsenmagazin 10. Jahrgang 3/2008) zeigt auch die Gründungen von Abteilungen und Lehrstühlen als erste Anfänge für Physikalische Chemie (tabellarisch) auf. Universitäten, wie die in Göttingen (1896) mit Nernst (Nobelpreis 1920), Leipzig (1898) mit Ostwald (Nobelpreis 1909) und Karlsruhe (1900) mit LeBlanc, gründeten aber, nach eigener Darstellung in ihren Jubiläumsschriften, völlig eigenständige Institute und Lehrstühle für Physikalische Chemie und nehmen jeweils für sich in Anspruch, die ersten in der Gründerreihe gewesen zu sein. Die Humboldt Universität Berlin nennt 1878 als Gründungsjahr eines Instituts für Physikalische Chemie, doch dürfte mit der Berufung von Nernst (1904) die Physikalische Chemie in Berlin an der HU ihren tatsächlichen Anfang genommen haben. Dieser Aufstieg der Physikalischen Chemie ist von gemischten Gefühlen begleitet gewesen. Vor der Berliner Akademie der Wissenschaften schwärmte der Physiologe Emil du Bois-Reymond: im Gegensatz zur modernen Chemie (d.h. der organischen Chemie) ist die Physikalische Chemie die Chemie der Zukunft (1882). Andererseits lesen wir in den Briefen von Carl Duisberg (Leiter der Bayer-Werke): Die Physikalische Chemie ist eine Spezialität, die nur Ostwalds und Nernsts Schüler forcieren und die als Modesache viel poussiert wird, die aber dem Chemiker in der Praxis gar nichts nützt (1897). Und 20 Jahre später hat dieser Industrieführer noch immer die gleichen Vorurteile, die er in einem Brief an Fritz Haber bezüglich der physikalisch-chemischen Doktor-Dissertanten dokumentiert: … es dürfte Ihnen nicht unbekannt sein, dass die Technik alle solche Bewerber ablehnt und nach vielfachen Erfahrungen auch nicht gebrauchen kann … diese jungen Chemiker tun mir leid … .(aus Schindewolf: 100 Jahre Inst. f. Phys. Chem. an der Uni Karlsruhe, Bunsenmagazin 2. Jhrg. 6/2000). Der Weg der TH/TUM für eine eigenständige Physikalische Chemie war zu dieser Zeit dementsprechend, aber nicht nur deswegen, noch weit und steinig.
Lehre der Physikalischen Chemie an der THM bis zur Einrichtung des ersten Lehrstuhles für Physikalische Chemie 1932
Der Autor beschränkt sich auf die wissenschaftlichen Persönlichkeiten und Einrichtungen, die vor 1932, also vor der Gründung des Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie erheblichen Einfluss mit ihrem Wirken auf diese Fächer in Forschung und Lehre hatten. Vertiefte Einblicke in deren Lebensläufe bieten die „Geschichte der Anorganischen Chemie“ (W.A. Herrmann) und „Geschichte der Organische Chemie“ (E. Fontain) (Homepage Fakultät Chemie TUM, Historie) und das Werk „TUM- Geschichte eines Wirtschaftsunternehmens, Verf. Martin Pabst/ Margot Fuchs, Hrsg. W.A. Herrmann. Metropol Verl. 2006
Wilhelm von Miller (1848-1899)
Der Sohn des Erzgießers Ferdinand von Miller und Bruder des Gründers des Deutschen Museums Oskar von Miller begann 1880 mit der Lehrtätigkeit an der THM, nachdem er 1871 bis 1874 hier Chemie studiert hatte. 1874 promovierte er an der LMU. Er bekam eine Assistentenstelle bei Erlenmeyer und habilitierte sich 1875. Aufenthalte bei diversen deutschen Universitäten führten ihn ab 1880 an die THM, wo er 1883 die Nachfolge Erlenmeyers antrat. Die größten Beiträge Wilhelm von Millers in Bezug auf die Physikalische Chemie an der THM waren, neben der Lehre in der elektrochemischen Abteilung, wohl die Einrichtung des ersten elektrochemischen Labors in Deutschland, sowie auch die eines Labors für Röntgenstrahluntersuchungen aus größtenteils privaten Mitteln. Wöbke, Bernd, „Miller, Wilhelm“, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 519 f. [Onlinefassung]; URL: www.deutsche-biographie.de/pnd11704380X.html, W.R. Pötsch: Lexikon bedeutender Chemiker
Wilhelm Muthmann (1861-1913)
In Nachfolge von Wilhelm von Miller wurde nach dessen frühem Tod 1899 Wilhelm Muthmann berufen. Muthmann studierte in Leipzig, Berlin und Heidelberg (bei Bunsen) und wurde 1886 in München promoviert. Er folgte einer Berufung nach Boston, kehrte aber schon 1888 nach München an das Institut für Mineralogie (Groth) zurück. Er habilitierte sich 1894 an der LMU mit „Beiträgen zur Volumtheorie kristallisierter Körper“. 1895 erhielt er die Ernennung zum a.o. Prof. am Chemischen Staatslaboratorium. Nach seiner Berufung 1899 an die THM beließ er das zur damaligen Zeit wohl modernste Elektrochemische Laboratorium, das er von Wilhelm von Miller übernahm, als selbständige Einrichtung neben der Anorganischen-, der Analytischen- und der Organischen Chemie unter seiner Leitung. Erst später, im Jahr 1907, wurde die Elektrochemie unter der Leitung des a.o. Prof. Johann Hofer eigenständig. Auch Wilhelm Muthmann verstarb früh, im Jahre 1913. (Priesner, Claus, „Muthmann, Wilhelm“, in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 654 f. [Onlinefassung])
Wilhelm Manchot (1869-1945)
1914 folgte Wilhelm Manchot auf dem Lehrstuhl mit dem Berufungstext:
„Ordentliche Professur für Anorganische Chemie, der Anorganischen Experimentalchemie und der Analytischen Chemie, einschließlich der Grundzüge der Physikalischen und Organischen Chemie.“ Die Physikalische Chemie war nun als eigenständiges Lehrfach angekommen und wurde durch eine hervorragende wissenschaftliche Persönlichkeit vertreten. (Wikipedia-Artikel: "Wilhelm Manchot (Chemiker)")
Hans Fischer (1881-1945)
Hans Fischer wurde 1921 als Nachfolger von Heinrich Wieland auf den Lehrstuhl für Organische Chemie der TH München berufen. Er setzte sich vehement für die Gründung eines Lehrstuhles für Physikalische-/Elektrochemie an der TH ein. Sein Bemühen scheiterte jedoch, sowohl an Geldmangel, als auch an der Selbstherrlichkeit des Staatslaboratoriums bzw. der Ludwig-Maximilians Universität, wo Kasimir Fajans seit 1917 als Professor für Physikalische Chemie tätig war und dieses Fach in München allein federführend innehaben wollte. Dies, obwohl die räumlichen Verhältnisse es dort nicht zuließen den Lehrbedürfnissen der Technischen Hochschule zusätzlich nachzukommen. Fischer setzte mit Hilfe des Vorstands der I.G. Farbenindustrie AG das Ministerium soweit unter Druck, dass zumindest ein Lehrauftrag bewilligt wurde.
Erst durch den Nobelpreis (1930) hatte Fischers Drängen den nötigen Nachdruck. So wurde die seit 1923 erledigte ordentliche Professur für Literaturgeschichte in eine solche für Physikalische Chemie umgewandelt. Am 1. April 1932 wurde Günter Scheibe als Professor für Physikalische Chemie an die Technische Hochschule München berufen. Die Leitung des Elektrochemischen Laboratoriums wurde ihm erst 1936 endgültig (und ohne Anspruch auf Vergütung) übertragen. (E. Kohler in Fak. Chemie, Biologie u. Geowissenschaften 1989, S. 29-31) Der 1. April 1932 gilt somit auch als Gründungsdatum des Instituts für Physikalische Chemie an der Technischen Universität München.
Autor: Dr. Edmund Cmiel (ehemaliger ltd., akademischer Direktor des Instituts für physikalische Chemie der TUM)